Biografie

Sigfrid Karg-Elert (1877–1933) wurde am 21. November 1877 als Siegfried Theodor Karg in Oberndorf am Neckar geboren. Als jüngstes von zwölf Kindern soll er schon in früher Kindheit eine enorme musikalische Begabung gezeigt haben. Ein regelrechtes Familienleben hat der junge Siegfried wohl kaum erlebt. Vielmehr waren die ersten Lebensjahre durch ständige Wohnungswechsel innerhalb Deutschlands geprägt. Ein Blick in die Meldeunterlagen der Familie Karg lassen primitive und beengte Lebensumstände erahnen: Vier der zwölf Kinder überlebten das erste Lebensjahr nicht und von den restlichen acht waren drei ,vorehelich’. Die Geburtsorte der Kinder lagen mit Berlin, Leipzig, Zürich, Augsburg und Oberndorf am Neckar teilweise erheblich voneinander entfernt. Der Vater Johann Jacob Karg (1823–1889) war Buchhändler und lebte viele Monate von seiner Frau Marie Auguste (1840–1908) samt Familie getrennt. Die Familie blieb hingegen nur wenige Jahre in Oberndorf und übersiedelte 1882 in die Stadt, die Siegfrieds Leben fortan prägen sollte.

In Leipzig erhielt er eine erste musikalische Ausbildung im neugegründeten Chor der Johanniskirche. Es folgten privater Klavierunterricht und erste Kompositionsversuche, die er dem Komponisten Emil Nikolaus von Reznicek (1860–1945) anlässlich einer „Leipziger Tonkünstler Versammlung“ im Jahre 1896 vorstellte. Reznicek erkannte Kargs Begabung und erwirkte für ihn ein dreijähriges Freistudium am Leipziger Konservatorium.

An diesem renommierten Institut in der Grassistraße studierte er bei so bedeutenden Persönlichkeiten wie Salomon Jadasohn, Carl Reinecke, Alfred Reisenauer und Robert Teichmüller. Von August 1901 bis September 1902 war Karg als Klavierlehrer am „Sannemann’schen Konservatorium“ und am „Neuen Konservatorium für Musik“ in Magdeburg tätig. In diese Zeit fällt auch die Veränderung seines Namens: Unter Auslassung des Buchstabens „h“ fügte er seinem Familiennamen den Mädchennamen seiner Mutter hinzu. Seinem Vornamen gab er dabei die nordische Schreibweise „Sigfrid“.

Im Jahre 1904 machte er die Bekanntschaft des Berliner Verlegers und Harmoniumspezialisten Carl Simon, der ihn auch an das „Kunstharmonium“ heranführte. Bis Mitte der zwanziger Jahre entstanden für dieses Instrument zahlreiche Kompositionen und Unterrichtswerke. „Papa Simon“, wie Karg-Elert seinen Verleger freundschaftlich nannte, war dabei mehr als ein Geschäftspartner: Simon war enger Vertrauter und Mäzen, der den chronisch finanzschwachen Komponisten oftmals finanziell unterstützte.

Durch den Gewandhausorganisten Paul Homeyer wurde Karg-Elert zu Orgelkompositionen angeregt. Mit seinem bedeutenden Opus 65, den 66 Choralimprovisationen, legte er dann schließlich 1909 den Grundstein für sein umfangreiches Orgelwerk.

Am 25. Juli 1910 heiratete Karg-Elert Minna Louise Kretzschmar (1890–1971); am 21. April 1914 wurde die Tochter Ingeborg Annelies Käthchen (genannt: Katharina) geboren. 1919 wurde Sigfrid Karg-Elert zum Lehrer am Leipziger Landeskonservatorium ernannt.

Seine Position am renommierten Leipziger Landeskonservatorium und in der Messestadt im Allgemeinen war die eines Außenseiters. Die sukzessive Nationalisierung des deutschen Musikbetriebes führte in den zwanziger Jahren zur schrittweisen Negierung des Komponisten Karg-Elert. Sein „kosmopolitischer“ und „artifizieller“ Kompositionsstil unterschied ihn von Zeitgenossen, die Musik nur noch als „deutsche“ Musik wahrnahmen. Allenthalben stieß Karg-Elert auf Ablehnung, die er auf Intrigen, Klüngelwirtschaft und Verkennung seiner Fähigkeiten zurückführte.

Eine besonders unglückliche Rolle spielte dabei Karl Straube (1873–1950), Thomaskantor und Leiter des Kirchenmusikalischen Institutes am Landeskonservatorium. Hatte er Karg-Elert anfänglich noch durch Aufführungen seiner Werke gefördert, präsentierte er sich in den zwanziger Jahren als dessen erbitterter Gegner. Auch der Reger-Schüler Hermann Grabner (1886–1969), ebenfalls Lehrer am Konservatorium, galt als Antipode zu Karg-Elert. Herman Berlinski, ein ehemaliger Student am Konservatorium, erinnert sich:

„Für Grabner galt der vierstimmige Satz gewissermaßen als Bibel, musikalisch ist er kaum über Brahms hinausgelangt, er hat, glaube ich, den Brahms nicht einmal begriffen. […] Das DEUTSCH schwang immer in seinen Reden mit. Karg-Elert sprach von Musik, Grabner von DEUTSCHER Musik. Dieser Akzent übertrug sich auf viele seiner Schüler. Karg-Elert selbst hat die Welt mit jeder Komposition überrascht, er war stilistisch ausgesprochen wandlungsfähig, zudem ein großer Techniker und ein kluger, kühner Theoretiker.“

Herman Berlinski

Der Schritt zu einer nationalistischen und rassistischen Argumentation war nicht weit. Karg-Elert wunderte sich bereits 1926:


„Was doch die verdammte Schnüffelei bei uns für groteske Blüten treibt. So, so, weil ich ‚Sigfrid‘ heiße, deshalb muß ich ‚Jude‘ sein! Weil manche meiner Werke französische Titel tragen, muß ich ein ‚Undeutscher‘ sein, den man boykottiert. O, was mir die Freundschaft und Sympathie zu England, Frankreich und Italien schon oft geschadet hat, man wird sofort als Jude, Verräter und Bolschewik abgestempelt-. Es ist schlimm!“

Sigfrid Karg-Elert

Der Vorwurf des undeutschen und das Gerücht der jüdischen Abstammung gipfelten 1935 in der posthumen Denunziation als ,nichtarischer Musikbeflissener’. Karg-Elerts Name wurde in die Erstauflage des perfiden Pamphlets „Das musikalische Juden-ABC“ von Christa Maria Rock und Hans Brückner aufgenommen. Trotz 1936 erfolgter Korrektur blieben die Schäden für die Rezeptionsgeschichte seiner Werke für Jahrzehnte irreparabel. Ein Musiker, der sich für Schönberg, Debussy und Skrjabin interessierte und Atonalität nicht als Ausdruck von ‘Entartung’ und ‘musikalischer Impotenz’ verstand, blieb weithin suspekt.

Im Mai 1930 nahm Karg-Elert als Ehrengast an einem zehntägigen Festival teil, das die „Londoner Organ Music Society“ zu seinen Ehren in England ausrichtete. Im Frühjahr 1932 machte er einen verhängnisvollen Fehler, indem er das Angebot zu einer Orgelkonzerttournee durch die USA annahm. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits von Krankheit und Misserfolgen in Deutschland gezeichnet, wobei ihm die Amerikatournee als „Fluchtmöglichkeit“, weg von den Leipziger Intrigen erschien. Er erhoffte sich den Erfolg, der ihm in Deutschland versagt blieb. Der Nicht-Organist Karg-Elert konnte jedoch die hohen Erwartungen des amerikanischen Publikums nicht erfüllen, sodass sich diese Tournee zum Fiasko entwickelte, war das amerikanische Publikum doch die europäischen Standards eines Marcel Dupré, Louis Vierne oder Marco Enrico Bossi gewohnt.

Ernsthaft erkrankt nach Deutschland zurückgekehrt verstarb Sigfrid Karg-Elert am 9. April 1933 in Leipzig.

Zu seinen Charaktereigenschaften gehörte eine gewisse ,Mystifikation’, die sich auch darin äußerte, Unzutreffendes über sich selbst in die Welt zu setzen. Hierin liegt auch ein Grund, weshalb immer noch so viele Umstände seines Lebens ungeklärt und nur schwer durchschaubar sind.


Literaturhinweise

  • Schenk, Paul: Sigfrid Karg-Elert, Eine monographische Skizze mit vollständigem Werkverzeichnis, Leipzig 1927.
  • Sigfrid Karg-Elert: Verzeichnis sämtlicher Werke, Zusammengestellt von Sonja Gerlach, Frankfurt/Main 1984.
  • Hartmann, Günter: Sigfrid Karg-Elert und seine Musik für Orgel, 2 Bde., Bonn 2002.
  • Hartmann, Günter: Karg-Elerts Harmonologik, Vorstufen und Stellungnahmen, Bonn 1999.
  • Hartmann, Günter: Rezension zu Jörg Strodthoffs Artikel Karg-Elert, Sigfrid in MGG 9, 2003
  • Mitteilungen der Karg-Elert-Gesellschaft, Jahrgänge 1986-2015.
  • Schinköth, Thomas (Hrsg.): Sigfrid Karg-Elert und seine Leipziger Schüler, Die Referate des Kolloquiums der Karg-Elert-Gesellschaft in Leipzig vom 1. bis 3. November 1996, Hamburg 1999.
  • Michel, Johannes (Hrsg.): Karg-Elert-Bibliographie, München 2001. 
  • Lipski, Thomas (Hrsg.): Sigfrid Karg-Elert, Die theoretischen Werke, Paderborn 2005.